Die Schweiz braucht Bewegung
Zwölf Monate nach dem Verhandlungsabbruch durch den Bundesrat ist die Schweiz nicht in Feierlaune. Die Freudenfeuer, die damals von Nationalkonservativen entzündet wurden, sind längst erloschen, die bilateralen Beziehungen quasi eingefroren. Einen brauchbaren Plan B konnte seither nämlich niemand aus dem Hut zaubern. Und um die lautesten Kritiker des Rahmenabkommens – medial hochgejubelte Gruppen wie «Kompass Europa» und «Autonomiesuisse» – ist es sehr still geworden.
Der Bundesrat bemüht sich zwar weiterhin um Gespräche: mit der EU-Kommission und den Nachbarländern, mit den Gewerkschaften, mit den Wirtschaftsverbänden und den Parteien. Doch man wird den Eindruck nicht los, dass er sich dabei im Kreis dreht. Allen Beteiligten ist mittlerweile klar, dass man diesen Fluss nicht durchqueren kann, ohne nass zu werden. Und trotzdem scheuen alle davor zurück, den ersten Schritt zu tun. Die näher rückenden Wahlen wirken lähmend, denn jeder Akteur läuft Gefahr, zumindest einen Teil der eigenen Anhängerschaft ernsthaft zu verärgern. Auf bürgerlicher Seite fürchtet man sich vor einer Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie, im gewerkschaftlichen Lager ist jegliche Lockerung der flankierenden Massnahmen auf dem Arbeitsmarkt ein rotes Tuch. Und mit einem institutionalisierten Streitschlichtungsverfahren mögen sie sich beide nicht anfreunden.
Die Situation ist also unverändert, derweil die Schweiz reihenweise Chancen verpasst. Beispielsweise die Chance, an den grossen europäischen Rahmenprogrammen für Forschung, Bildungsaustausch und Kultur teilzunehmen. Oder die Chance, die Teilnahme am Binnenmarkt abzusichern und der Exportwirtschaft Planungssicherheit zu verschaffen. Und ebenso die Chance, mit einem Stromabkommen die künftige Energieversorgung in einem europaweiten Verbund sicherzustellen.
Man darf sich mit guten Gründen fragen, weshalb die Landesregierung weiter derart zögerlich agiert. Seit 2018 haben sich die Stimmberechtigten in vier Abstimmungen konstant für die Stärkung des bilateralen Wegs ausgesprochen, stets mit klaren Mehrheiten von deutlich über 60 Prozent. Vor zwei Wochen sagten sogar 71,5 Prozent Ja zu einem stärkeren Engagement im Rahmen des Schengen-Abkommens, entgegen den Parolen von Gewerkschaftsbund, SP, Grünen und Teilen der SVP. Das lässt durchaus den Schluss zu, dass sich die meisten Schweizerinnen und Schweizer nach jahrzehntelangen Diskussionen endlich eine stabile Lösung für die Beziehungen zum wichtigsten politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Partner wünschen. Und dass sie längst begriffen haben, dass diese Lösung auch einen Preis haben wird, wenn wir zwar von Europa profitieren, aber trotzdem so eigenständig wie möglich bleiben wollen. Vor einem Jahr hat der Bundesrat einen Abbruch beschlossen. Nun wäre es Zeit, einen Aufbruch zu verkünden.