Neue IHK-Studie zeigt: Wegfall der Bilateralen käme uns alle teuer zu stehen

Jan Riss
Jan Riss
10 August 2020 Lesezeit: 4 Minuten
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Mann mit Regenschirm im See
Die Kündigung der bilateralen Verträge hätte langfristig bedeutende Auswirkungen auf den Wohlstand in der Schweiz: Pro Kopf und Jahr würde sie uns rund 4300 Franken kosten. Das zeigt eine neue Studie von BAK Economics im Auftrag der IHK St.Gallen-Appenzell und der IHK Thurgau.

Am 27. September stimmen wir über die Kündigungsinitiative und damit über den Fortbestand der Bilateralen I zwischen der Schweiz und der Europäischen Union ab. Diese ermöglichen der Schweizer Wirtschaft einen weitgehenden Zugang zum Binnenmarkt der EU. Pro Kopf profitiert die Schweiz so stark wie kein anderes europäisches Land von diesem Marktzugang – und dies wohlgemerkt als Nicht-EU-Mitglied. Umso einschneidender wäre ein Wegfall derjenigen Verträge, welche die Beziehungen zum EU-Binnenmarkt regeln. Dies wird nun durch eine neue Studie bestätigt, die heute in St.Gallen im Rahmen einer Medienkonferenz präsentiert wurde.

Einbusse von über 4000 Franken pro Kopf und Jahr

Demnach werden die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen einer Kündigung der Bilateralen I für die Schweiz im Jahr 2040 auf ein um 6,5 Prozent tieferes BIP geschätzt. Pro Person entspricht dies rund 4280 Franken pro Jahr – eine beachtliche und vor allem anhaltende Wohlstandseinbusse. Zum Vergleich: Die Erdölkrise sorgte 1975 für einen Wirtschaftseinbruch von 7,3 Prozent. Allerdings erholte sich die Wirtschaft vor rund 45 Jahren relativ rasch wieder von diesem historischen Schock.

Wachstumspotenzial langfristig eingeschränkt

Was in den 1970ern also ein kurzfristiger und einschneidender Taucher der Konjunktur war, dürfte sich bei der Kündigung der bilateralen Verträge mit der Europäischen Union als das Gegenteil herausstellen: Ein anhaltender Schrecken ohne Ende. Denn durch den Wegfall der gleichberechtigten Teilnahme am europäischen Binnenmarkt steigen für die hiesigen Unternehmen Kosten und Rechtsunsicherheit massiv. Verstärkt wird dieser negative Effekt um den ohnehin schon vorherrschenden Fachkräftemangel, weil die Migration und damit der Zugriff auf Fachkräfte durch die Wiedereinführung des alten Kontingentsystems deutlich erschwert würden.

 

Investitionsgüterbranche mit grösstem Einbruch

Am stärksten würde es gemäss den Studienautoren den zweiten Sektor treffen. Einerseits betreibt die Industrie mehr grenzüberschreitenden Handel. Andererseits wurde das Abkommen über die technischen Handelshemmnisse besonders auf das verarbeitende Gewerbe ausgerichtet, das den Löwenanteil des zweiten Sektors ausmacht. Verglichen mit anderen westlichen Industrienationen ist der Anteil des zweiten Sektors an der Schweizer Volkswirtschaft überdurchschnittlich gross. Der gesamte Investitionsgüterbereich mit den Branchen Metall, Maschinen, elektrische Ausrüstungen und Fahrzeuge würde bis 2040 knapp 12 Prozent an Wertschöpfung verlieren – fast doppelt so viel wie die Gesamtwirtschaft. Deutlich kleiner wären die Auswirkungen auf den Grossteil der Dienstleistungsbranchen.

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Quelle: IHK St.Gallen-Appenzell, IHK Thurgau, BAK Economics

Quelle: IHK St.Gallen-Appenzell, IHK Thurgau, BAK Economics

Alle Branchen betroffen

Betrachtet man die Resultate nach Branchen, ergeben sich also deutliche Unterschiede. Der gemeinsame Nenner lautet jedoch: Keine Branche kann sich den negativen Effekten entziehen. Auch das Gewerbe und weitere primär im schweizerischen Binnenmarkt tätige Unternehmen würden gemäss Studie die wirtschaftlichen Verwerfungen zu spüren bekommen. Dies gilt einerseits für jene Unternehmen, die Vorleistungen für exportierende Branchen erbringen. 75 Prozent der Vorleistungen von Schweizer Exporten werden hierzulande erbracht – ein Wert, der seit Jahren und trotz Frankenstärke konstant geblieben ist. Andererseits profitiert die hiesige Wirtschaft von den Einkommensströmen aus dem Ausland, welche die Nachfrage in anderen Sektoren erhöhen. Hinzu kommen weitere systemische Effekte, die sich durch die veränderte Attraktivität des hiesigen Wirtschafts- und Investitionsstandorts ergeben. Als Beispiel sei der Wegfall des Luftverkehrs- oder des Forschungsabkommens erwähnt. Als Teil der bilateralen Verträge bedeutet ein Ja zur Kündigungsinitiative auch das Ende dieser Abkommen. Folglich wären über die beiden spezifischen Bereiche Luftverkehr und Forschung die Innovationsfähigkeit zahlreicher anderer Branchen sowie die Erreichbarkeit potenzieller Märkte und umgekehrt jene des Schweizer Markts eingeschränkt. Diese systemischen Effekte betreffen also nicht vereinzelte Branchen, sondern die gesamte Wirtschaft. Und das spürt am Schluss jede und jeder Einzelne von uns im Portemonnaie. Das Fazit der beiden Industrie- und Handelskammern an der heutigen Medienkonferenz lautet deshalb: Die Kündigung der Bilateralen hätte weitreichende und andauernde Auswirkungen – und zwar auf uns alle.
 

Methodik der Studie

Um die Auswirkungen bestmöglich darzustellen, haben die Studienautoren mit Hilfe eines makroökonomischen Strukturmodells zwei Szenarien gerechnet: Das Referenzszenario beschreibt die zukünftige Entwicklung der Schweiz unter Beibehaltung der Bilateralen I. Dem wird im Alternativszenario eine zukünftige Entwicklung der Schweiz ohne Bilaterale I ab 2023 gegenübergestellt. Die Niveaudifferenz der beiden Szenarien beschreibt die wirtschaftliche Einbusse.

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