Arbeitsbedingungen in Europa: Joost Korte von der EuropÀischen Kommission im Interview mit die plattform

Kevin  - Team s+v
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2 November 2022 Lesezeit: 7 Minuten
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die plattform Interview
Die Zukunft der bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU sind seit dem Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen weiterhin ungewiss. Ein offener Streitpunkt: Die flankierenden Massnahmen zum Lohnschutz. Wir wollten von Joost Korte, Generaldirektor fĂŒr BeschĂ€ftigung, Soziales und Integration der EuropĂ€ischen Kommission, wissen: Wie steht es um die Arbeitsbedingungen in der EU?

Die Schweiz hat einen liberalen Arbeitsmarkt: Löhne, Arbeitszeiten, Gesundheitsschutz, Gleichstellung und Vereinbarkeit sind wenig reguliert. Wie ist die Situation in der EU? Wie werden diese Aspekte dort geregelt?

Joost Korte: Ziele der EU-Politik in den letzten Jahrzehnten sind hohe BeschÀftigungsraten und einen starken Sozialschutz zu erreichen, Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verbessern und sozialen Zusammenhalt zu gewÀhrleisten.

Im Bereich des Arbeitsrechts ergĂ€nzt die EU die Rechtssetzungsinitiativen der Mitgliedsstaaten durch Festlegung von sogenannten Mindeststandards. WĂ€hrend die einzelnen Mitgliedsstaaten auf Wunsch einen höheren Schutz vorsehen können (wozu wir sie stets anregen), mĂŒssen sich alle an die abgemachten Mindeststandards halten.

Im Sommer zum Beispiel hat eine EU Richtlinie neue Standards fĂŒr Mindestlöhne festgelegt. NatĂŒrlich beinhaltet dies nicht einen Mindestlohn fĂŒr alle Arbeiter in der EU, sondern Regeln, wie gesetzliche Mindestlöhne auf nationaler Ebene festgelegt, aktualisiert und durchgesetzt werden sollen. Zudem fordert die Richtlinie Mitgliedsstaaten auf, AktionsplĂ€ne festzulegen, um die Tarifbindung zu steigern, wenn die derzeitige Quote bei unter 80% liegt. Auch im Bereich Gleichstellung im Arbeitsmarkt und Gesundheitsschutz gibt es verschiedene EU Richtlinien, die Mindeststandards festlegen und somit einen vergleichbaren Ausgangspunkt fĂŒr Arbeitnehmer schaffen.

Wie steht es um dem Lohnschutz: Wie stellen EU-Staaten mit höherem Lohnniveau sicher, dass es bei ihnen nicht zu Lohndumping kommt?

Lohnkonvergenz kommt besonders zwischen östlichen und westlichen Mitgliedsstaaten vor. Zwischen 2010 und 2021 stiegen die Löhne in Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen und RumÀnien um 6% oder mehr und in Tschechien und der Slowakei um rund 4%, wÀhrend sie in der EU-27 im Durchschnitt nur um 2% stiegen.

Die EU hat verschiedene Mechanismen eingerichtet, um diesen Prozess zu unterstĂŒtzen. Die KohĂ€sionspolitik ist hier besonders wichtig. Sie trĂ€gt dazu bei, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt in Europa zu stĂ€rken, indem sie Ungleichheiten im Entwicklungsniveau der Regionen abbaut. Der Schwerpunkt liegt auf SchlĂŒsselbereichen, die der EU helfen, sich den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu stellen und global wettbewerbsfĂ€hig zu bleiben. Zwischen 2014 und 2020 wurden ungefĂ€hr 32,5% des EU-Haushalts, also etwa 351,8 Mrd. EUR, verschiedenen Finanzierungsinstrumenten zugewiesen, mit denen die KohĂ€sionspolitik unterstĂŒtzt wird. Die Aufbau- und Resilienz FazilitĂ€t zum Beispiel unterstĂŒtzt Massnahmen zur Förderung von ProduktivitĂ€t und WettbewerbsfĂ€higkeit sowie zur Verbesserung der Rahmenbedingungen fĂŒr Unternehmen. Ziel ist es, die europĂ€ischen Volkswirtschaften und Gesellschaften nachhaltiger und widerstandsfĂ€higer zu machen und besser auf die Herausforderungen und die Chancen des ökologischen und digitalen Wandels vorbereitet zu sein.

Die EU hat auch verschiedene Initiativen zur Aufrechterhaltung gleicher Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt und zur Förderung eines fairen Wettbewerbs auf der Grundlage hoher Sozialstandards, Innovation und ProduktivitĂ€t anstelle niedriger Löhne vorgeschlagen. So wurde beispielsweise die EuropĂ€ische Arbeitsbehörde (ELA) eingerichtet, um sicherzustellen, dass die EU-Vorschriften zur ArbeitskrĂ€ftemobilitĂ€t und zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit gerecht und wirksam durchgesetzt werden. DarĂŒber hinaus wurde die Richtlinie ĂŒber die Entsendung von Arbeitnehmern ĂŒberarbeitet, um die Anwendung des Arbeitsrechts des Aufnahmemitgliedsstaats im Falle einer langfristigen Entsendung sicherzustellen. Auch die kĂŒrzlich verabschiedete Richtlinie ĂŒber angemessene Mindestlöhne wird die soziale AufwĂ€rtskonvergenz fördern, indem die Angemessenheit des gesetzlichen Mindestlohns gestĂ€rkt wird.

Wie wird das EU-Regelwerk in Punkto Arbeit und Lohn in den Mitgliedsstaaten umgesetzt? Gibt es Unterschiede bei der Implementierung? Wer kontrolliert die Umsetzung und gibt es Sanktionen bei Nicht-Implementierung?

Sobald eine EU Richtlinie erlassen wurde, sind Mitgliedsstaaten verpflichtet, diese in nationales Recht umzusetzen. Die Kommission steht ihnen dabei regelmÀssig zur Seite.

Danach sind es die nationalen Behörden, wie zum Beispiel Aufsichtsbehörden und Gerichte, die fĂŒr die Durchsetzung der Richtlinie sorgen. Möchten EU BĂŒrger also ihr Recht einklagen, mĂŒssen sie sich zunĂ€chst an die Behörden und Gerichte im eigenen Land wenden. Sollte vor einem nationalen Gericht strittig sein, wie eine EU Richtlinie ausgelegt wird und anzuwenden ist, kann das Gericht, bei dem die Sache anhĂ€ngig ist, diese dem Gerichtshof der EuropĂ€ischen Union vorlegen. Der Beschluss des Gerichtshofs der EU auf die vorgelegten Fragen gilt sodann EU weit. Die Interpretationen des Gerichtshofs der EU sind von grosser Bedeutung und erlauben EU Richtlinien auch in Zeiten eines wechselnden Arbeitsmarkts stets aktuell zu bleiben.

Die EU Kommission hat als ‘HĂŒterin der VertrĂ€ge’ die Aufgabe zu ĂŒberprĂŒfen, dass Mitgliedsstaaten geltendes EU Recht richtig in nationales Recht umgesetzt haben und dieses korrekt anwenden.

Ist die Kommission der Auffassung dies sei nicht der Fall, kann sie gegen den jeweiligen Mitgliedsstaat nach erfolgloser Ermahnung ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem Gerichtshof der EU einleiten. Sollte der Gerichtshof der EU zu demselben Schluss kommen, verhÀngt er in der Tat Sanktionen gegen den jeweiligen Mitgliedsstaat, die anhalten, bis das EU Recht in Frage richtig umgesetzt wurde.

Ist es aus Ihrer Sicht zwingend, dass alle Teilnehmenden des EU-Binnenmarkts das EU-Regelwerk genau gleich umsetzen?

EU Richtlinien mĂŒssen nicht wortwörtlich, aber in jedem Fall sinngemĂ€ss umgesetzt werden. FĂŒr das EU Arbeitsrecht bedeutet dies, dass sich alle Mitgliedsstaaten an die vereinbarten Mindeststandards, die im EU Recht verankert sind, halten. So kann sichergestellt werden, dass die Bevölkerungen aller Mitgliedsstaaten gleichbehandelt werden. Das ist etwas Einzigartiges und fördert nicht nur den Zusammenhalt, sondern auch die MobilitĂ€t innerhalb der EU. Des Weiteren werden so auch einheitliche Wettbewerbsbedingungen im EU-Binnenmarkt garantiert.

Zudem gibt es zahlreiche positive Beispiele, in denen Mitgliedsstaaten ĂŒber die verankerten Mindeststandards hinausgehen und den Menschen in ihrem Land einen noch besseren Arbeitsschutz ermöglichen. Dazu regt die Kommission die Mitgliedsstaaten allgemein immer an, denn unser höchstes Ziel ist es, die Lebens- und BeschĂ€ftigungsbedingungen der Menschen in Europa zu verbessern.

Was gibt es in Ihrem Bereich fĂŒr Neuerungen und PlĂ€ne zur Verbesserung der Rahmenbedingungen fĂŒr Arbeitnehmende?

Wie bereits erwÀhnt, wurde die EU Richtlinie zu Mindestlöhnen diesen Sommer beschlossen und wartet nun auf Umsetzung in nationales Recht (Frist: Oktober 2024).

Im August dieses Jahres endete ausserdem die Frist fĂŒr die Umsetzung der Richtlinie ĂŒber transparente und verlĂ€ssliche Arbeitsbedingungen. Durch diese neuen Vorschriften haben Arbeitnehmer ein Recht auf mehr Vorhersehbarkeit bezĂŒglich ihrer Arbeitsbedingungen (beispielsweise ArbeitsauftrĂ€ge und Arbeitszeiten). Sie mĂŒssen nun auch ausfĂŒhrlicher ĂŒber die wesentlichen Aspekte des BeschĂ€ftigungsverhĂ€ltnisses, den Arbeitsort und die Entlohnung informiert werden.

Auch im August endete die Umsetzungsfrist fĂŒr die Richtlinie zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben in der EU. Die Richtlinie enthĂ€lt Mindeststandards fĂŒr Vaterschafts-, Eltern- und Pflegeurlaub. Sie legt ausserdem zusĂ€tzliche Rechte fest, wie zum Beispiel das Recht, flexible Arbeitsregelungen zu beantragen. So können Menschen ihre berufliche Karriere und ihr Familienleben besser unter einen Hut bringen.

Arbeitsbedingungen in der EU werden aber nicht nur durch Richtlinien vorangetrieben. Die im September 2022 von der Kommission vorgestellte Strategie fĂŒr Pflege und Betreuung zum Beispiel hat auch zum Ziel, faire Arbeitsbedingungen und Berufsbildung fĂŒr Pflegepersonal zu schaffen. Sie enthĂ€lt Empfehlungen zu Tarifverhandlungen und sozialem Dialog, zur Einhaltung höchster Standards hinsichtlich der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes und zu Weiterbildungsangeboten fĂŒr Pflege- und BetreuungskrĂ€fte.

Des Weiteren warten einige von der Kommission vorgeschlagenen EU Richtlinien auf Einigung und Annahme.

Der von Dezember 2021 stammende Vorschlag fĂŒr eine Richtlinie zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit ist besonders interessant und auch im Sinne der Digitalisierung und des wandelnden Arbeitsmarkts wichtig. Durch diese EU Richtlinie möchte die Kommission sicherstellen, dass Menschen, die ĂŒber digitale Arbeitsplattformen arbeiten, die ihnen zustehenden Arbeitnehmerrechte und Sozialleistungen in Anspruch nehmen können. Auch Schutz in Bezug auf die Verwendung des algorithmischen Managements, das heisst automatisierte Systeme, die Managementfunktionen bei der Arbeit unterstĂŒtzen oder ersetzen, wĂŒrde in der Richtlinie geregelt werden.

Im MĂ€rz 2021 hat die Kommission auch eine Richtlinie zur Lohntransparenz vorgeschlagen. So soll sichergestellt werden, dass Frauen und MĂ€nner in der EU gleiches Entgelt bei gleicher Arbeit erhalten. Es soll Arbeitgebern auch nicht mehr gestattet sein, Arbeitsuchende nach ihrer frĂŒheren VergĂŒtung zu fragen. DarĂŒber hinaus wĂŒrden Arbeitnehmer Anspruch auf EntschĂ€digung fĂŒr Lohndiskriminierung haben.

Die EU-FĂŒhrungspositionen-Richtlinie, die bereits 2012 von der Kommission vorgeschlagen wurde, ist nun auch kurz vor der Ziellinie und wartet auf die förmliche Annahme der EU-Gesetzgeber. Die Richtlinie schreibt Unternehmen mit mehr als 250 Arbeitnehmern vor, dass sie bis Mitte 2026 mindestens 40% der nicht geschĂ€ftsfĂŒhrenden Vorstandssitze oder 33 Prozent aller Vorstandsposten mit Frauen besetzen mĂŒssen.

Dieses Interview wurde von die plattform gefĂŒhrt und ist zum ersten mal 25. Oktober 2022 auf ihrer Webseite erschienen. 

Zur Person - Joost Korte

Joost Korte wurde am 16. MĂ€rz 2018 zum Generaldirektor der Generaldirektion BeschĂ€ftigung, Soziales und Inklusion ernannt. Zuvor war der NiederlĂ€nder stellvertretender Generaldirektor in der Handelsabteilung der Kommission. Er verbrachte auch mehrere Jahre im Generalsekretariat als Direktor fĂŒr die Beziehungen zum Ministerrat und hat Erfahrungen in den Kabinetten von Sir Leon Brittan, Chris Patten und Danuta HĂŒbner gesammelt. So konnte er ein tiefes VerstĂ€ndnis fĂŒr die EU-Entscheidungsfindung entwickeln. Der gelernte Jurist trat 1991, nachdem er acht Jahre mit wissenschaftlichen Arbeiten zum Europarecht an den UniversitĂ€ten von Utrecht und Edinburgh verbracht hat, in der Kommission ein.

die plattform – «For a strong Swiss workforce»

Die plattform ist die politische Allianz unabhĂ€ngiger und lösungsorientierter Angestellten- und BerufsverbĂ€nde. Mit ĂŒber 88'000 Mitgliedern agiert die plattform im Interesse der Dienstleistungsberufe, in denen derzeit rund 80 Prozent der Berufsleute tĂ€tig sind (Tendenz steigend) sowie der Wissensberufe, der am stĂ€rksten wachsenden Berufsgruppe in der Schweiz. Die plattform arbeitet an innovativen Lösungen in der Bildungs-, Sozial- und Wirtschaftspolitik. Sie setzt sich seit 2018 als einzige Arbeitnehmerorganisation fĂŒr ein gesichertes Fundament fĂŒr geregelte institutionelle Beziehungen zur EU ein. Die plattform ist Mitglied der Allianz stark+vernetzt.

www.die-plattform.ch

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